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Fakultät Architektur und Bauingenieurwesen
LEHRSTUHL GESCHICHTE UND THEORIE DER ARCHITEKTUR (GTA)

Geschichte und Theorie der Architektur als Herausforderung

Die Forderung nach "zeitgenössischem Bauen" ist ebenso verbreitet wie unbegründet. Sie ist eine der letzten Bastionen des Modernismus und gründet in der Ideologie, dass jede Zeit ihre eigenen architektonischen Formen haben müsse. Diese Ideologie schneidet die Bauerfahrungen der Vergangenheit von der Baupraxis der Gegenwart ab und unterminiert gleichzeitig die Relevanz der Architekturgeschichte für die heutige Architektenausbildung wie die Reichhaltigkeit der heutigen Architekturauffassung.

Folgt man dieser Ideologie, so können historische Bauten keine direkten architektonischen Lehren für das zukünftige Bauen enthalten, sondern lediglich der Illustration ihrer Entstehungszeit dienen. Diese totale Historisierung der Architektur übersieht jedoch, dass es in der Architektur trotz allem historischen Wandel Bestandteile und Bedingungen gibt, die keineswegs kurzfristigen Veränderungen unterworfen sind. Gesellschaftliche Bedingungen etwa mögen sich unablässig wandeln, statische Bedingungen etwa tun dies nicht. Ja, wir befinden uns nicht selten in der paradoxen Lage, dass die für "unsere" gesellschaftlichen Bedingungen entworfenen Wohnungen weit weniger beliebt sind, als die für deutlich andere gesellschaftliche Ansprüche errichteten "Altbauten".

Wie kann das sein? Zum einen ist Architektur weit weniger von externen Faktoren determiniert, als dies gemeinhin unterstellt wird. Gesellschaftliche Bedingungen mögen eine Rolle spielen, sie sind aber niemals die einzige Bedingung der architektonischen Form und zudem keine hinreichende. Ökonomie, Politik, Technik, Kultur und nicht zuletzt Natur treten stets als weitere Bedingungsfelder hinzu – und es wäre absurd zu glauben, dass eine kleine Veränderung in einem dieser Bereiche das Ganze der Architektur revolutionieren müsse. Zum anderen gelten in der Architekturgeschichte nicht automatisch dieselben Gesetze wie in der Politik-, Sozial- oder Kunstgeschichte. Von diesen Feldern der historischen Forschung wurden bislang Entwicklungsvorstellungen unkritisch auf die Architekturgeschichte übertragen, ohne zu hinterfragen, welche spezifischen Eigenschaften der Architektur vielleicht andere Entwicklungsvorstellungen erfordern.

Ist der Glaube an die permanente notwendige Veränderung der Architektur und an die damit verbundene Irrelevanz historischer Bauerfahrung für die zeitgenössische Baupraxis erst einmal ausgeräumt, so kann man sich auch zugestehen, wie zahlreich und fundamental auch heute die Anregungen aus der Architekturgeschichte sind. Wände stehen zumeist immer noch senkrecht, da es die Schwerkraft erfordert; Mauerwerk wird zumeist immer noch in versetzten Lagen verlegt, obwohl sich die sozialen, politischen, ökonomischen und sonstigen Bedingungen seit Römertagen mehrfach gewaltig gewandelt haben; Dächer sitzen zumeist immer noch oben auf den Häusern, da Regen trotz Klimawandel immer noch nass ist und selten von unten kommt – die Reihe dieser alltäglichen Beispiele ließe sich unendlich fortsetzen.

Sie zeigt, dass tatsächlich aus der Architekturgeschichte ganz unmittelbar gelernt werden kann und gelernt wird, selbst wenn die unsinnige Forderung nach "Zeitgenössischem" erhoben wird. Auch dies ist erklärbar: Architektur ist eine Disziplin, die notwendig der Erfahrung bedarf. Sie ist keine theoretische Wissenschaft, sondern entsteht stets konkret in Raum und Zeit. In dieser geschichtlichen Ausdehnung bildet sich ihr Erfahrungsschatz. Architektur ist also ganz wesentlich Architekturgeschichte – dem kann selbst der verbohrteste Avantgardist nicht entkommen.

Von diesen grundsätzlichen Überlegungen her ergibt sich eine neue Ausrichtung der Architekturgeschichte, deren Relevanz für die Architekten- und Ingenieursausbildung evident ist. Architekturgeschichte dient nicht mehr nur dem historischen Verständnis architektonischer Formen (dies tut sie nach wie vor – die Autonomie historischer Hermeneutik ist unhintergehbar), sondern bietet auch unmittelbare Lehren für den heutigen Entwurfsprozess. Aus welcher Zeit auch immer Bauwerke stammen mögen, dem aufmerksamen Beobachter bieten sie meist eine Fülle von Kenntnissen, die er nutzbringend anwenden kann.

So ist etwa die Feinheit der griechischen Steinbearbeitung nicht einfach durch die Überwindung der Sklavenhaltergesellschaft abgelegt, sondern eine Herausforderung für heutige Steinbearbeitung. So ist die Proportionalität und Maßstäblichkeit einer Renaissancevilla nicht einfach mit dem Verlust des Humanismus ad acta gelegt, sondern eine Herausforderung für heutige Entwurfsarbeit. So ist die Haptik der Materialien eines Arts-and-Crafts-Hauses nicht einfach mit der Mittelalterromantik verloren, sondern eine Herausforderung für heutigen Materialeinsatz.

Viele Bedingungen der Architektur mögen sich verändert haben, dennoch behalten viele architektonischen Erfahrungen ihren Wert. Architekturgeschichte hat die Aufgabe, diese Erfahrungen darzulegen und die jungen Entwerferinnen und Entwerfer für sie zu sensibilisieren. Von historischen Bauten lässt sich unmittelbar lernen – dies muss wieder erkannt und geübt werden. Selbst die unter der dem Originalitätszwang des Geniekults einstudierte Furcht vor dem Kopieren gilt es zu hinterfragen: In der Wissenschaft oder der Wirtschaft mag Kopieren (zumindest nicht nachgewiesenes Kopieren) ein Vergehen sein, in der Architektur ist es üblich, nützlich und hilfreich (zumindest sofern bewährte und gute Vorbilder oder Vorgehensweisen kopiert werden).

Wozu also Architekturgeschichte? Nicht, um eine Entwurfshaltung zu rechtfertigen. Nicht, um vermeintliche Entwicklungsgesetze zu belegen. Nicht, um gebrauchsfertige Entwurfsrezepte aufzuzeigen. Nicht, um vor den Aufgaben der Gegenwart zu flüchten. Sondern, um die vielfältigen Formen der Architektur aus ihren jeweiligen historischen Bedingungen und Absichten heraus zu verstehen. Und auch, um den reichhaltigen historischen Erfahrungsschatz des Bauens nicht fahrlässig brachliegen zu lassen. Architekturgeschichte als Herausforderung: das heißt, es zumindest nicht schlechter zu machen, als es schon einmal war.

Und wozu Architekturtheorie? Nicht, um eine Formenwahl zu rechtfertigen. Nicht, um Architektur auf ein vermeintliches Grundgesetz zu reduzieren. Nicht, um durch noch nie dagewesene Behauptungen zu verblüffen. Nicht, um ein dürftige Praxis mit verheißungsvollen Worten zu verschleiern. Sondern, um das komplizierte Gebiet der Architektur in angemessen komplexer Weise aufzufassen. Und auch, um durch ein verfeinertes Verständnis zu einer besseren Praxis zu gelangen. Architekturtheorie als Herausforderung: das heißt, es sich nicht einfacher zu machen, als es in Wirklichkeit ist.

 

                                                                                                                                                               Prof. Dr. Wolfgang Sonne